M. Keuchen: Film, in: Brieden, Norbert u.a. (Hg.): Religionsunterricht beobachten. Praktiken – Artefakte – Akteure, Ostfildern/Stuttgart 2022, 260-268.

Im evangelischen Religionsunterricht eines vierten Schuljahrs in einer Grundschule im ländlichen Raum in Baden-Württemberg wird der Spielfilm „Almanya – Willkommen in Deutschland“ (BRD 2011) gezeigt. Die Schüler:innen wissen aus ihrem bisherigen Unterricht, dass der Spielfilm ohne Unterbrechungen in der Stunde gezeigt wird. Der Ortspfarrer unterrichtet die Lerngruppe aus einer Klasse mit 15 Schüler:innen. Der Religionskurs hat den Raum gewechselt, um im Medienraum das Whiteboard und den Beamer nutzen zu können. Die Schulmaterialien und Jacken sind im eigentlichen Unterrichtsraum verblieben.

9.15 Uhr: Sitzordnung und -möbel werden von den Kindern frei gewählt. Drei Schüler legen sich bäuchlings und weitere Kinder sitzen auf Tischen. Zwei Schüler sitzen direkt vor der Projektionsfläche auf Stühlen. Der Raum ist durch Rolladen auf der Türseite und durch einen farbigen Vorhang auf der Fensterseite abgedunkelt. Die Schüler:innen sitzen in ihrer Wunschsitzordnung mit frei gewählten Nachbar:innen. Die Gruppe sitzt fast nach Geschlechtern getrennt, an zwei Stellen gibt es Berührungen zwischen Jungen und Mädchen. Die Mehrheit der Schüler:innen sitzt oder liegt auf Tischen mit engem Körperkontakt. Die Entfernung zur Lehrkraft im hinteren Raumbereich beträgt zum Teil mehrere Meter, die zur Leinwand bei den Kindern in der ersten Reihe nur einen Meter.

9.42 Uhr: Nach 27 Minuten haben sich die Körperhaltungen der Schüler:innen verändert. Schüler J. sitzt nicht mehr in konzentrierter aufrechter Haltung auf dem Tisch in der ersten Reihe, sondern liegt auf dem Tisch. Schüler D. liegt daneben auf dem Tisch und schaut den Film ‚über Kopf‘.

Das Einschalten eines Filmes ist oftmals mit einem Umschalten der zuschauenden Schüler:innen verbunden. Sie schalten von einer Schul- in eine Freizeitwelt um, indem sie einen anderen körperlichen Habitus formen als im weiteren Unterricht. Keiner der Schüler:innen sitzt auf einem Stuhl hinter einem Tisch wie im Regelfall von Unterricht. Der Körperkontakt wird enger und bildet freundschaftliche Verhältnisse ab. Die Binarität zwischen Schulwelt und Freizeitwelt wird bei der Filmrezeption ein Stück aufgehoben. Die Annäherung an eine freizeitliche Kinowelt geschieht besonders durch die Abdunkelung des Schulraumes. Anders als im Kino sind die Bankreihen in dem Raum nicht aufsteigend angeordnet.

Hans Mendl betont beim konstruktivistischen Blick auf Religionsunterricht, dass Lernende bereits Vorwissen und Einstellungen zu Lerngegenständen und Lernmedien in den Unterricht mitbringen.Die Bedeutung von Emotionen im Hinblick auf die affektive Voreinstellung zum Medium Film darf bei der unterrichtlichen Filmrezeption nicht unterschätzt werden. Deshalb ist zu vermuten, dass die affektiven Voreinstellungen zur Filmrezeption die Filmanalyse im Unterricht behindern.

Marion Keuchen: Film, in: Brieden, Norbert/ Büttner, Gerhard/ Mendl, Hans/ Reis, Oliver/ Roose, Hanna (Hg.): Religionsunterricht beobachten. Praktiken – Artefakte – Akteure, Ostfildern/Stuttgart 2022, S. 260-268.