Gefunden von Astrid Weber im Oktober 2024
Immanuel Kant – wer mag, wer kann den denn heute noch lesen? Dicke Bände mit vielen langen und schwierigen Sätzen, reichlich veraltet und verstaubt… Das Kant-Jahr 2024 – nur etwas für Fachkongresse und Gelehrte in abgehobenen Sphären?
Marcus Willaschek, Professor der Philosophie an der Universität Frankfurt, gelingt es, den berühmten Philosophen der Aufklärung frisch und verständlich einem interessierten Publikum nahezubringen. Das gebundene Buch mit Lesebändchen und einigen historischen Abbildungen vereint zahlreiche Essays zu den Themen Kants, die Willaschek nicht nur in ihrem historischen Kontext lebendig, sondern die er als unsere aktuellen Themen erfahrbar werden lässt.
Ich nehme dieses sehr komfortabel eingerichtete Buch immer wieder gern in einer Mußestunde zur Hand. Die knappen Essays sind im Inhaltsverzeichnis stichwortartig zusammengefasst und in einer schlüssigen Abfolge angeordnet, lassen sich aber unabhängig voneinander lesen. Im Text finden sich immer wieder Querverweise, die Lust machen weiterzulesen. Jeder Essay ist jeweils mit einem markanten Kant-Zitat überschrieben.
Von Anfang an baut Willaschek der Meinung vor, man habe es bei Kant mit einem bloßen Theoretiker zu tun, der von Praxis keine Ahnung und an ihr kein Interesse habe. Ganz im Gegenteil „überwindet Kant den traditionellen Gegensatz von Theorie und Praxis, Denken und Handeln, indem er die Theorie in den Dienst der Praxis stellt“ (S. 14). Bei seinen grundlegenden Überlegungen und der systematischen Erarbeitung sei es ihm um die Unterstützung des Handelns freier Individuen gegangen und darum, wie sich Gesellschaft und Weltgeschichte zum Besseren entwickeln können.
Für dieses Projekt setzt Kant auf die Freiheit und den ‚Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen‘, wie es in seinem vielleicht bekanntesten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ heißt. Kant ist Untertan eines absolutistischen Staates, nimmt aber schon in Anspruch, Bürger einer Republik sein zu können, wie es sich die Menschen im benachbarten Frankreich 1789 erkämpft hatten – und wie wir es heute manchmal allzu selbstverständlich voraussetzen. Als Vordenker der Vereinten Nationen greift Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ sogar Jahrhunderte voraus.
‚Liberté – egalité – fraternité‘ – so steht es noch heute in großen Lettern über dem Eingang vieler Rathäuser in Frankreich. Neben der Freiheit ist es für Kant vor allem das Recht, die Gleichheit vor dem Gesetz, was das Zusammenleben der Bürger, ihr Verhältnis zum Staat und die Beziehung der Staaten untereinander in Respekt und Frieden sichern soll. Für das moralische Handeln formuliert Kant nur ein einziges grundlegendes Gebot, den sogenannten kategorischen Imperativ: ‚Handle so, dass die Maxime deines Handelns allgemeines Gesetz werden könnte‘.
Und wie hält es Kant mit Gott? Kant ist der Religion gegenüber recht misstrauisch. Was Religion anrichten kann, das hatte nicht zuletzt das Jahrhundert vor ihm mit dem Dreißigjährigen Krieg gezeigt. Aber aus moralisch-praktischen Gründen ist der Glaube an Gott für ihn „moralisch notwendig, weil wir unsere obersten moralischen Ziele nur mit Gottes Unterstützung erreichen können“ (S. 24/25). Die Existenz Gottes kann allerdings nicht bewiesen werden. Kant ist durch und durch Wissenschaftler. Nichtdestotrotz begeistert ihn die Großartigkeit des Kosmos. In einem seiner Hauptwerke, der „Kritik der praktischen Vernunft“, steht der Satz
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“
Wer Lust hat, den Gedanken Kants weiter auf die Spur zu kommen und mit Hilfe von Begriffen und Begründungen größere Klarheit zur Einschätzung von nach wie vor aktuellen Fragestellungen wie z.B. die nach Demokratie und Frieden zu gewinnen, dem eröffnen die lebendig geschriebenen Essays von Marcus Willaschek wunderbare Denkabenteuer, wenn nicht gar Denkrevolutionen. Empfehlenswert nicht nur für Erwachsene, sondern auch für aufgeschlossene Schülerinnen und Schüler der fortgeschrittenen Sekundarstufe.
Auf der Website des Verlags C.H.Beck können Sie das Vorwort sowie die ersten beiden Kapitel „Kants drei Revolutionen“ und „Das höchste politische Gut: Der ‚ewige‘ Frieden“ lesen.
Viele Texte Kants sind im Internet frei verfügbar, so z.B. der Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ beim Projekt Gutenberg.
Das Buch war für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert und ist gerade in der 4. Auflage erschienen.
Das Buch kann in der Hochschul- und Landeskirchenbibliothek Wuppertal ausgeliehen werden.