Gefunden von Astrid Weber im April 2024
Diese Geschichte steht so nicht in der Bibel.
Die Bibel erzählt von einer großen Flut.
Noah rettet seine Familie, Freunde und von jeder Tierart 2.
Im Bilderbuch geht es um die Frau von Noah.
Frau Noah näht einen Mantel mit vielen Taschen.
Warum?
Weil sie darin Einhörner und andere Wesen stecken und auch sie retten will.
Diese Wesen gibt es nur in der Fantasie.
Aber die Fantasie ist wichtig für Kinder und alle Menschen.
Was steckt in „Frau Noahs Mantel“?
Vor nunmehr vier Jahren kam das wunderbare Bilderbuch von Jackie Morris (Texterin) und James Mayhew (Illustrator) beim Gütersloher Verlagshaus heraus, zwei Jahre, nachdem es bei dem noch ganz jungen britischen Verlag Otter-Barry Books das Licht der Welt erblickt hatte. Die Verlegerin Janetta Otter-Barry möchte junge Schauende und Lesende begeistern – „with a focus on culturally diverse and inclusive illustrated books, as well as a strong collection of poetry titles“. Das ist ihr auch bei mir gelungen; denn dieses Bilderbuch, das schon Dreijährige erfassen können, fasziniert mich, die wie die beiden Bilderbuchkünstler in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts geboren wurde, mindestens ebenso.
Beide, Morris und Mayhew, sind sowohl im Schreiben als auch im Malen zu Hause. In ihrem Buch „Mrs Noah’s Pockets“ entfachen sie einen kollegialen Dialog, der Tiefendimensionen zu Tage fördert, die vom Ursprung menschlicher Kultur erzählen. Während ihr Mann Noah Listen erstellt und auswählt, welche Wesen erhaltungswürdig sind und welche nicht, rettet sie heimlich die ausgesonderten Wesen und macht sie für ihre Kinder und die Bilderbuchschauenden lebendig, indem sie sie sammelt und von ihnen erzählt.
Ein kurzer Blick in die Menschheitsgeschichte:
Die ersten überlieferten Zeugnisse von Schrift sind Listen, die im späten 4. Jahrtausend vor Christus zur Erfassung wirtschaftlicher Vorgänge dienten. Mithilfe einer in Tontafeln geritzten Keilschrift wurden in Mesopotamien u.a. Listen von Tierarten gefertigt. In einer Art Lexikon wurde die Bedeutung mit Bildern – Piktogrammen bzw. Symbolen – bestimmt; eine konkrete Sprache und ein regelrechtes Erlernen waren nicht erforderlich.
Bildliche Darstellungen von Tieren und Menschen sind dagegen wesentlich älter. Die ersten belegten Höhlenmalereien sind über 40.000 Jahre alt; neben Darstellungen von real Erlebtem finden sich auch Zeichnungen von Mischwesen, also Traum- und Fantasiegestalten.
Zurück zum Bilderbuch:
Frau Noah, eine von Morris erfundene, der Bibelerzählung hinzugefügte Figur, ergänzt das vorsorgende Verhalten ihres Mannes um eine wesentliche Dimension, die sie, sozusagen matrilinear und subversiv, an ihre gemeinsamen Kinder weitergibt. Herr Noah fokussiert sich auf das Nützliche und selektiert nach wirtschaftlichen Kriterien. Ohne in die Auseinandersetzung mit dem Familienoberhaupt zu treten, handelt Frau Noah im Geheimen.
Wenn sie mit der Nähmaschine (Frau hatte offenbar schon früh Technik und beherrschte sie) einen Mantel mit unendlich vielen Taschen verfertigt und abends den Kindern wundersame Geschichten erzählt, wirkt sie als Königin der Nacht. Während der Herr für Ordnung in der Arche und fürs Überleben im neuen Land sorgt, sammelt sie heimlich die nichtsnutzigen und der Fantasie entspringenden Wesen in ihre unzähligen Manteltaschen und bereichert schließlich die wiedererwachte Natur mit der Vielfalt des Lebendigen. Das Wissen um die Existenz dieser anderen Wesen hat sie kontinuierlich tradiert. So können ihre Nachfahren einen vertraulichen Umgang mit ihren Träumen und Fantasien pflegen sowie eine reichhaltige Einbildungskraft und Sprache für das Unbewusste entwickeln.
Warum ich dieses Buch so liebe und für die gemeinsame Lektüre in Familie, Kindertagesstätte, Schule und Kollegenkreis empfehle? Weil es, für alle Generationen fasslich, Menschheits- und Bildungsgeschichte erzählt. Weil es uralte Rollenbilder von Mann und Frau vor Augen führt, diese kritisch, dabei sanft lächelnd beleuchtet. Weil es die ästhetische Bildung als unverzichtbare Ergänzung einer Effizienz- und Kompetenzorientierung behauptet. Weil es die Einbildungskraft stark macht und freisetzt. Weil es trotz drohender Katastrophe nicht nur das Überleben der Gattung in den Fokus nimmt, sondern alle Andersartigen umfasst, das Leben in Fülle und Freude vorbereitet und ausgestaltet.
Es sind in Großbritannien zwei Nachfolgebände erschienen: Mrs Noah’s Garden (2020, 2021 im Gütersloher Verlagshaus in Deutschland) und Mrs Noah’s Song (2022, erscheint voraussichtlich nicht in Deutschland).
Hier kann man mit der Autorin durchs Bilderbuch blättern: https://www.youtube.com/watch?v=iZIp41aiucQ